Der BGH hat am 23.04.2020 (III ZR 250 und 251/17) entschieden, dass ein Radfahrer grundsätzlich nicht mit einem quer über einen Feldweg gespannten, ungekennzeichneten Stacheldraht rechnen muss und es deshalb kein Mitverschulden an einem Unfall darstellt, wenn er seine Fahrgeschwindigkeit auf ein solches Hindernis nicht einstellt und deshalb zu spät davor bremst.
Der Kläger war mit seinem Mountainbike von einer für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrten Straße in einen zum Gebiet der beklagten Gemeinde gehörenden unbefestigten Feldweg abgebogen. Hier befand sich eine Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikalen nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten, an denen ein Sperrschild für Kraftfahrzeuge (Zeichen 260) befestigt war und die durch zwei waagerecht verlaufende verzinkte Stacheldrähte gehalten wurden. Diese Sperre war mit Zustimmung der Gemeinde durch den damaligen Jagdpächter errichtet worden. Der ehemalige Bürgermeister der beklagten Gemeinde hatte circa zwei- bis dreimal pro Quartal nach der Absperrung gesehen. Die Beklagten zu 2 und 3 sind die am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter des Niederwildreviers.
Der Kläger stürzte kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er hängen und erlitt eine komplette Querschnittslähmung unterhalb des vierten Halswirbels. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und seitdem Versorgungsempfänger.
Der Kläger verlangt Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind. Die Bundesrepublik Deutschland verlangt Ersatz der Ausgleichszahlungen, der Versorgungsbezüge und Kostenerstattungen. Der Kläger macht geltend, die Gemeinde als Eigentümerin des Feldweges und die Jagdpächter hätten ihre Verkehrssicherungspflichten verletzt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG den Klagen unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils des Klägers von 75 % stattgegeben.
Der BGH hebt die Urteile des OLG auf und verweist die Sachen zurück.
Mit Recht habe das OLG eine schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung durch die Beklagten bejaht. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht sei verkehrswidrig. Ein solches Hindernis sei angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und der daraus sowie aus seiner Beschaffenheit folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, so dass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen müsse. Für diesen verkehrspflichtwidrigen Zustand haftet die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast und hafteten die jetzigen Jagdpächter seit Übernahme der Jagdpacht.
Der Kläger habe nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen. Dieses Gebot gebiete aber nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, die jedoch – bei an sich übersichtlicher Lage – aus größerer Entfernung noch nicht zu erkennen sind. Daran ändere auch das an den Drähten angebrachte, mit nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten versehene Verkehrsschild nichts. Im Gegenteil erweckte es den Eindruck, der Weg sei für Fahrradfahrer frei passierbar. Auch die dem Kläger vom OLG angelastete fehlerhafte Reaktion auf das Hindernis, die zum Überschlag des Fahrrads führte, begründe nicht den Vorwurf eines Mitverschuldens. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stelle dann keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung habe. Als anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers bleibe lediglich, dass er auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg statt der „normalen“ Fahrradpedale sogenannte Klickpedale nutzte. Dies könnte allerdings einen Mitverschuldensvorwurf von allenfalls 25 % rechtfertigen (vgl. zur Verkehrssicherungspflicht einer Feldmarkinteressentenschaft und den Sorgfaltspflichten eines Quad-Fahrers OLG Braunschweig, Beschluss vom 27.02.2019, 9 U 48/18, RdL 2020, 26).